Europa hat die Wahl

Von Cornelia Markowski

Vom 23. bis 26. Mai 2019 sind zum neunten Mal rund 500 Mio. wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) aufgerufen, ihre Volksvertreterinnen und -vertreter auf europäischer Ebene zu wählen. Dem neuen Europaparlament, genauer den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, kommt eine erhebliche Bedeutung bei der Gestaltung der EU-Politik und Rechtsetzung bis 2024 zu: Ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments können in der weit überwiegenden Zahl der EU-Gesetzgebungsverfahren keine Rechtsakte verabschiedet werden und weder ein Kommissionspräsident oder -präsidentin noch die Kommissarinnen und Kommissare im Herbst 2019 ins Amt kommen. Ebenso hängt letztlich vom Ausgang der Wahl ab, ob es der Fraktion mit den meisten Stimmen gelingt, auch die Präsidentin oder den Präsidenten der Europäischen Kommission zu stellen.

Aktuelle Vorhersagen zum Ausgang der Wahl prognostizieren, dass die großen Fraktionen der Christdemokraten (EVP) und der Sozialdemokraten (S&D) erneut Verluste hinnehmen müssen. Die S&D-Fraktion könnte mehr als ein Viertel ihrer Sitze einbüßen. Zuwächse dürften sich – nach dem Einstieg von Macrons "La République en Marche" – für die Liberalen und für die Grünen ergeben. Die Rechtsfraktionen werden infolge des "Brexit" zwar ihre stärksten Mitgliedsparteien verlieren, aber gleichzeitig Anlaufstelle für neue rechte und rechts- bzw. nationalpopulistische Parteien sein, die erstmalig einziehen, sodass Verluste hier kaum zu erwarten sind.

Wie wird sich die Neuverteilung der Interessen im Parlament auf den Prozess der europäischen Integration und die Ziele der EU auswirken?
Diese Frage hat den Deutschen Verein bewogen, seine Erwartungen an die Europäische Union für die nächste Legislaturperiode ausdrücklich zu formulieren. Mit Blick auf die Errungenschaften der europäischen Integration in den letzten Dekaden und wegen der Fakten, die derzeit mit den Erwägungen eines "No deal"-Szenarios beim Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU bekannt werden, bezieht der Deutsche Verein klar Position für die Weiterführung der europäischen Integration, mehr noch: für ein soziales Europa. Ein soziales Europa ist aus seiner Sicht gekennzeichnet durch gemeinsame kräftige Impulse seitens der EU-Kommission, des EU-Parlaments und des Rats der EU für die soziale Aufwärtskonvergenz der Sozialleistungssysteme in den Mitgliedstaaten – und das auf einem hohen Niveau –, flankiert von einer auskömmlichen EU-Strukturförderung zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts sowie deutlichen sozialen Zielen in der Gesamtstrategie der EU zur Koordinierung aller politischen Bereiche. Es setzt voraus, dass die Sozial- und Beschäftigungspolitik weiterhin eine eigene Rolle in der EU-Politik spielt. Der Anspruch ist – so steht es im EU-Vertrag – nicht weniger als eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt zielt.

Wir brauchen ein starkes soziales Europa …
Bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen in Europa sowie der Folgen der Alterung der europäischen Gesellschaften, Ausweitung des Dienstleistungssektors und Technologisierung der Arbeitswelt allerorten und der Folgen von Zuwanderung aus Krisen- und Kriegsgebieten außerhalb der EU muss sich die Arbeit der Mitgliedstaaten der Union und ihrer Repräsentanten an den erklärten sozialen Zielen des Staatenbundes messen lassen. Dazu gehören die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung, Förderung sozialer Gerechtigkeit, eines angemessenen Sozialschutzes und des sozialen Zusammenhalts. Der Deutsche Verein fordert daher, die Umsetzung der neuen "Europäischen Säule sozialer Rechte" auch mit einem neu gewählten Europäischen Parlament und einer neuen EU-Kommission gemeinsam mit dem Rat der EU konsequent weiterzuverfolgen. Die Ziele der globalen Agenda 2030 für eine nachhaltige Sozialentwicklung sollen Teil der EU-Politik werden. Ebenso sollen die jüngst vorgeschlagenen Ziele der EU-Strukturförderpolitik besser mit der Gesamtstrategie der EU verzahnt werden, auf der das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell der nächsten Jahre beruhen wird.

… und mehr Beteiligung.
Entscheidend für die weitere Integration bzw. den Erhalt der EU als einzigartige Friedens-, Werte- und Wohlstandsgemeinschaft wird es sein, die Bereitschaft zur Beteiligung an und die Identifikation mit dem europäischen Projekt aktiv zu fördern, bei alle EU-Bürgerinnen und Bürgern und insbesondere bei den jungen Menschen. Jugendmobilität und Jugendaustausch über Grenzen hinweg bedürfen genau der Stärkung, die sie gerade auf europäischer Ebene erfahren, und einer Ausweitung auf benachteiligte Gruppen, die unterrepräsentiert sind. Hier wird konkreter europäischer Mehrwert geschaffen, der bei den Menschen ankommt. Der Deutsche Verein ist der Ansicht, dass die Instrumente zur Einbindung nationaler, regionaler und lokaler Interessen sowie der Interessen der Zivilgesellschaft im europäischen Willensbildungsprozess – gerade nach Ende des Krisenbewältigungsmodus in der EU – weiterentwickelt werden müssen. Partizipation und Demokratie im EU-Willensbildungsprozess sind tragende Element für die Akzeptanz der europäischen Institutionen und ihrer Arbeit. Ungeachtet dessen trifft jede oder jeden Einzelne/n die Aufgabe, ihre bzw. seine Stimme auch zu erheben, um die eigenen Interessen kundzutun. Dafür bietet die Europawahl in diesem Jahr eine sehr gute Gelegenheit.

Wahl zum EU-Parlament im Überblick

  • Seit 1979 sind die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Gemeinschaft, später der Europäischen Union (EU), aufgerufen, ihre Volksvertreterinnen und -vertreter auf europäischer Ebene zu wählen. 705 Sitze sind zu vergeben.
  • Ca. 500 Millionen Wahlberechtigte europaweit können vom 23. Bis 26. Mai 2019 ihre Stimmen abgeben.
  • Deutschland stellt 96 Abgeordnete.
  • Mit den Kandidatenlisten der Parteien in Deutschland ist Anfang März zu rechnen



Zur Autorin

Bild von Cornelia MarkowskiCornelia Markowski ist als Leiterin der Stabsstelle Internationales tätig.

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